Es muss 2006 oder 2007 gewesen sein. Ich war zum einem Projekt-Kickoff Meeting eingeladen: Kick Off Entry into Service A380 bei der Lufthansa. Und da bin ich ihm erstmalig begegnet: Dem Sensations-Tourismus in Projekten!

In meiner naiven Vorstellung dachte ich vor Beginn des Meetings damals, dass es bei diesem Kick-Off Meeting darum ginge, den Scope des Projektes vorzustellen, die terminlichen Meilensteine abzustecken und die wesentlichen Arbeitspakete unter den Anwesenden zu verteilen, den Modus der Zusammenarbeit zu besprechen und die konkreten nächsten Schritte bis zum nächsten Treffen im sich zu konstitutionierenden Projektteam zu verabreden. Doch schon beim Betreten des Meetingraums musste ich feststellen, dass meine Vorstellungen von Projektrealitäten sehr naive waren: Dort saßen tatsächlich fast 100 Menschen und warteten gespannt auf die Ausführungen der Projektleitung. Im ersten Moment dachte ich noch: Wow, aber ok! Die A380 ist schließlich ein sehr großes Flugzeug. Da braucht es auch viele Arbeitspakete und entsprechende viele Menschen, die Verantwortung übernehmen. Doch spätestens nach Abschluss des Meetings waren meine naiven Vorstellungen der Realität gewichen: Die meisten der dort anwesenden Menschen waren nicht gekommen, um Verantwortung im Projekt zu übernehmen. Die erste A380 bei der Lufthansa war eine Sensation! Da musste man als “Projekt-Sensations-Tourist” natürlich von der ersten Minute an dabei sein. Und die damalige Projektleitung hat dann auch alles dafür getan, um den Sensations-Tourismus voll und ganz zu befriedigen. Statt über Timelines, Arbeitspakete, Verantwortungen, Zusammenarbeit und Co zu sprechen erlebte ich eine Präsentation bunter Bilder, Fotos der A380, der neuen Kabine, dem technischen Schnick-Schnack usw. Oder, um es mit den Worten  zu sagen: 

„Wenn du ein Schiff bauen willst, beginne nicht damit, Holz zusammenzusuchen, Bretter zu schneiden und die Arbeit zu verteilen, sondern erwecke in den Herzen der Menschen die Sehnsucht nach dem großen und schönen Meer.“

Von daher kann ich rückblickend sagen: Ein echt gut gemachtes Kickoff Meeting. Die Sehnsucht nach der großen, schönen A380 wurde spätestens in diesem Meeting vollends geweckt.

Dennoch: Der Begriff des “Projekt-Sensations-Tourismus” hatte sich mit dem Bild der nahezu 100 Sensations-Touristen seitdem fest bei mir eingebrannt – ich könnte sogar noch sehr genau beschreiben, wie der Raum aussah, in dem wir uns trafen. Und seitdem sehe ich sie immer wieder in vielen Projekten vieler Unternehmen. Das eigentliche Problem ist dabei häufig, dass dieser Senstations-Tourismus über den gesamten Projektverlauf nie abebbt. Projektleiter erfreuen sich hoher und manchmal auch zunehmender Einschaltquoten und vergessen dabei völlig, Rollen und Verantwortlichkeiten in Projekten zu klären und ihre hoffentlich regelmäßig stattfindenden, knackigen Projektmeetings auf genau diesen Personenkreis zu reduzieren.

Stattdessen trifft man sich in schöner Regelmäßigkeit, labert ohne Ende und gibt zu allem Möglichen Projektgeschehen seinen Senf ab.

Nicht selten nehmen zum Leidwesen dieser Projektleiter die Einschaltquoten zu, wenn die Projekte aus dem Ruder zu laufen scheinen. Denn dann schalten sich zu den Sensations-Touristen meist auch noch die Hierarchen aller Himmelsrichtungen dazu, um das Projekt vermeintlich wieder auf Spur zu bringen. Der Höhepunkt der Projekt-Sensation ist erreicht.

Kommt Euch das bekannt vor? Dann probiert’s doch einfach mal mit einer simplen – nahezu disruptiven Frage im nächsten Projekt-Meeting: Können wir heute ausnahmsweise darüber sprechen, wer der hier Anwesenden welche Verantwortung, wofür im Projekt übernimmt?

Es könnte allerdings passieren, dass in der Folge beim nächsten Projekt-Meeting dann nur noch die Hälfte der Personen wiederkommt!

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